Die Sache mit dem Schaf

Ein Junge springt über Betonstelen
Georgie Pauwels – Jump.jpg aus Wikimedia Commons (Übernahme aus Flickr), Fotograf: Georgie Pauwels, CC-BY-2.0

Am Ende versammelten sich die Schüler in der dunklen, süßlich-schimmelig riechenden Garderobe und warteten auf ihre Eltern. Das von der Decke tropfende Wasser sammelte sich in Kübeln und Schüsseln und klang wie das Ticken dutzender Uhren. Fabian dachte: „Verdammt, fast vorbei und ich stottere immer noch, Rechnen ist auch Scheiße.“ Mutter hatte zu Beginn etwas von „tollen, lehrreichen Erlebnissen“ und von „vielen neuen Freunden“ gesagt. „Schämen muss ich mich. Mama wird heulen und Papa wütend werden.“ Beim Unterricht Frau Dr. Anreithers konnte er nicht einen Satz richtig vorlesen, etwa: „Saint-Exupéry aß in Bordeaux extrem viele Doughnuts“. Das Wetter hier in Bernhardsöde war verheerend, es goss den halben Sommer lang und an den Plafonds der Schlafsäle wuchsen dunkle Flecken. In die Gänge und manche Zimmer tropfte das Wasser, wie in die Garderobe. Einige Kameraden glaubten, sie wären ihren Eltern vollkommen egal, „zu 100 Prozent wurscht“, wie sie sagten. Das dachte Fabian nicht, denn einmal erhielt er ein Paket mit Schimmelkäse, Müsliriegeln und Dinkelwecken. Im Brief stand: „Lieber Fabian, hier ist ein Paket voller leckerer Fressalien, aber teile sie mit anderen, die’s nicht so gut haben.“ Er überflog die nächsten sechs Blätter und auf der Rückseite des letzten stand: „Aber ich weiß ja, dass du dich freust. Bussi, Mama.“ „Vielleicht ist es ja normal sich zu freuen?“ überlegte er und kippte einen Eimer Regenwasser in den Hof. Normal sollte er hier werden und deshalb auch einen „normalen Roman“ lesen: „Der Schatz im Silbersee“. Nach den ersten Seiten warf er das Buch zwar in eine Ecke, aber überlegte: „Wirklich normale Leute lesen das und werden Minister und Präsidenten, aber ich, o je.“ Vater hatte einmal einen Science-Fiction Roman bei ihm gefunden: „Der letzte Countdown“. Das gab einen Krach: „Wirf ihn weg und lies was Gescheites!“ (siehe oben). Noch etwas steckte im Paket: das Magazin „Wunderwelt“. „Das gesunde Zeug kann ich ja loswerden, das Heft nicht, wenn das einer im Mülleimer findet, nennt er mich einen blöden Warmen und verdrischt mich.“ Zum Glück gab es in der Garderobe eine Hydrokultur, aber jetzt bekam er Albträume: Irgendjemand fingerte das Heft aus den Tonkügelchen und bald rätselten alle: „Wer liest so was? Ein Warmer?“ Ein Psychologe sprach: „Nicht ganz! Ein kleiner warmer Schwachsinniger.“ Aus solchen Träumen wachte er schweißnass auf, manchmal auch mit Regenwasser, denn die Oberlichten der Schlafsaalfenster waren gekippt, aber sich beschweren? „Lieber nicht, sonst bin ich ein schwuler Bettnässer“. Erbrechen war dagegen respektierter. Von Achim, dem netten Mathelehrer, hieß es sogar, er hätte letzten Silvester in seine Winterstiefel gekotzt, aber er war trotzdem für alle ein Supertyp, denn in seinen Stunden durfte man sogar Taschenrechner benutzen. „Ich bin sicher nur so dumm, weil ich nicht saufe, ich bin ein Schlumpf.“ Neben Fabians Schlafsaal logierte eine Kindergartengruppe mit einem Riesenschlumpf an der Tür. Hin und wieder gab es mathematische Fitnessläufe: Die Schüler liefen mit einem Pädagogen durch einen Wald und regelmäßig gab es Rechenaufgaben und Turnübungen. Meistens nieselte es und schon beim Bruchrechnen hatten sich die Meisten ihren Knöchel verstaucht. Fabian nieste außerdem dauernd, das störte und bald wusste er: „Eine rinnende Nase ist besser als eine blutende.“

Jetzt blitzte und donnerte es gleichzeitig. Er überlegte, weshalb man ihn verschickt hatte. „Vielleicht die Sache mit dem Schaf?“ In der Pausenhalle seiner Hauptschule hatte er einmal eine Tür entdeckt, er öffnete und muffiger Geruch schlug ihm entgegen. In dieser „Lehrmittelkammer“, wie ein Schild verkündete, gab es Ständer mit Landkarten und einen Globus, sogar ein ausgestopftes Schaf, aber alles mit einer Staubschicht bedeckt. Neben dem Schaf lehnte hochkant ein gerahmtes Zitat, das Glas war zerbrochen, das Zitat zerknittert und stellenweise unlesbar. Fabian entzifferte: „Um Mitglied sein zu können, muss man ein Schaf sein. Einstein.“ Bald traute er seinem Verstand nicht mehr, denn das ausgestopfte Schaf blökte und spazierte zur Tür hinaus. Später hätte er sich ohrfeigen mögen: „Warum habe ich das erzählt?“ Denn der Klassenvorstand riet danach seiner Mutter: „Lassen Sie Ihren Sohn einmal gründlich untersuchen.“ Ergebnis: ein Termin beim Kinderpsychiater, dann ein EEG beim Neurologen und später eine Computertomografie des Gehirns. Dazu passte ein Gespräch, das er eben mit anhörte: Mathelehrer Achim und Frau Dr. Anreither, die Sprachpädagogin, lehnten beide aus einem Fenster, sahen auf den verregneten Hof und rauchten. „Manchmal möchte ich fast verzweifeln“, begann Frau Anreither, „besonders bei diesem Fabian. Ein Schafskopf ist er, und faul dazu.“

„Aber liebe Kollegin“, erwiderte Achim, „seien Sie nicht so streng. Bei den Burschen, die hierher kommen, ist sowieso alles verloren, aber was wir tun können, ist das Leben schöner machen und davon zehren sie und das …“, er zündete eine neue Zigarette an, „haben sie auch bald verdammt nötig.“

Fabian rätselte: „Was nun? Da hält mich jemand für ein Schaf und es ist trotzdem alles egal?“ Das Wunderwelt-Heft hatte wenigstens niemand entdeckt, das war gut, auch wenn Mutter jetzt mit einem neuen hereinkam. „Aber ich muss ja diese ganzen Arschlöcher nie wieder sehen, diese Anreither und diesen Achim auch nicht.“ Als er über den Vorplatz zum Wagen lief, brach sogar die Sonne durch, an den Hecken glitzerten Regentropfen und klare Luft strömte ihm entgegen. Fabian war so vergnügt, dass er einen Hüpfer nach vorne machte: „Ist es jetzt nicht wunderschön?“

Autor: Christoph Waghubinger (Lewenstein)
Lizenz: CC-BY-SA-3.0-AT

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